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Landeszeitung Lüneburg: Viktorianische Prüderie importiert
Arabistin Dr. Ines Weinrich: Verfolgung Homosexueller in der islamischen Welt ist ein modernes Phänomen

Lüneburg (ots)

Noch immer rätseln die Ermittler über das Motiv des Attentäters von Orlando. Möglicherweise erschoss er 49 Menschen in einem Schwulenclub aus einem islamistischen Hass auf den Westen, möglicherweise aus einem Hass auf Schwule. In vielen muslimischen Ländern ist Homosexualität mit dem Tod bedroht. Das ist erst seit Kurzem so, betont die Islamwissenschaftlerin Dr. Ines Weinrich von der Uni Bochum. Nach Jahrhunderten homoerotischer Poesie in Arabien wurde erst in der Kolonialzeit eine unversöhnliche Haltung aus dem Westen importiert.

Der Attentäter von Orlando äußerte sich vor dem Massaker schwulenfeindlich, war aber Stammgast im "Pulse" - hat also möglicherweise das töten wollen, was er an sich selbst hasste. Gibt es explizit verurteilende, verbietende Passagen zur Homosexualität im Koran, die schwule Muslime mit sich hadern lassen?

Dr. Ines Weinrich: Muslimische Rechtsgelehrte, die ein Verbot der Homosexualität befürworten, beziehen sich vor allem auf zwei nahezu identische Passagen im Koran: die Sure 7, Verse 80-81, und die Sure 29, Vers 28. Dort wird das "Volk von Lot" der Verderbtheit angeklagt. Konkret erwähnt wird aber lediglich, dass sich Männer lustvoll Männern statt Frauen zuwenden. Weitere Ausführungen zu den als verderbt angesehenen Sexualpraktiken gibt es im Koran nicht. Ebenso wird zwar festgelegt, dass "das Volk Lots", bestraft wird. Es wird aber kein Strafmaß genannt. Gegner des Homosexualitätsverbots weisen gerne auf Koran-Passagen hin, wo nicht nur von "großäugigen Jungfrauen", sondern auch von hübschen Knaben "gleich verborgenen Perlen" die Rede ist, die im Paradies auf die männlichen Wiederauferstandenen warten, um sie als Mundschenke zu bedienen. Das würde auf homoerotische Freuden im Paradies hinweisen.

Nun wurde der Prophet Lot dem Koran zufolge nach Sodom und Gomorrha geschickt, um die Verderbtheit zu beenden. Genannt werden aber explizit verheiratete Männer. Welches war ihr zentrales Vergehen, das des Ehebruchs oder das der Hinwendung zum eigenen Geschlecht?

Dr. Weinrich: Sodom und Gomorrha werden im Koran nicht namentlich genannt, aber das Volk des Lot dient auch hier als Prototyp derer, die nicht auf den warnenden Propheten hören wollen. In der Tat unterscheidet das islamische Recht zwischen verheirateten und unverheirateten Männern. Die Ehe als Absicherung der normierten Gesellschaftsordnung von zwei klar definierten Geschlechterrollen hat Vorrang.

Konservative beziehen sich auch auf die Hadithe, die Überlieferungen über das Leben Mohammeds, um homosexuellen Geschlechtsverkehr als zu bestrafendes Vergehen zu brandmarken. Sind diese authentisch?

Dr. Weinrich: In den beiden hochgeschätzten, als besonders zuverlässig geltenden Hadith-Sammlungen von Buchari und Muslim kommt das Thema Homosexualität nicht vor. Dafür sind die Aussagen und möglichen Bestrafungen in den nicht-kanonischen Sammlungen, deren Authentizität stärker angezweifelt wird, umso drastischer. Je nach islamischer Rechtsschule werden als Strafen Auspeitschen, Verbannen oder Steinigen genannt.

Also könnte man zuspitzend sagen, dass nicht der Koran die Quelle der aktuellen Homophobie ist, sondern die späteren Auslegungen?

Dr. Weinrich: Ja. Allein schon deshalb, weil Homophobie oder Homosexualität moderne Begriffe sind, die aus einer modernen Wahrnehmung von Geschlechteridentität herrühren. Insofern ist es immer problematisch, derartige Begriffe auf ältere Gesellschaften rückzuprojizieren. Aber da im Koran tatsächlich nur jeweils eine abwertende und eine eventuell tolerierende Stelle zu diesem Thema zu finden sind, kann man den Koran nicht als Hauptquelle für den Schwulenhass in modernen muslimischen Gesellschaften benennen. Allerdings ist nicht zu vernachlässigen, dass sowohl der islamischen als auch der jüdischen und christlichen Religion ein heteronormatives Menschenbild zugrunde liegt. Die Buch-Religionen trennen die Geschlechter scharf und formulieren klare Männer- und Frauenbilder. Aus diesem Verständnis der Geschlechterrollen heraus vermag im Islam die unterschiedliche Wertigkeit der Ehe als solcher und vorübergehender homosexueller Handlungen auf der anderen Seite resultieren.

Islamisten, die Schwule von Dächern in den Tod stürzen, sehen sich im Einklang mit einer langen religiösen und kulturellen Tradition. Zu Unrecht?

Dr. Weinrich: Es gibt keine religiöse oder kulturelle Tradition, Schwule von Dächern zu stürzen. Selbstverständlich gibt es Bücher und Traktate, die drakonische Strafen fordern, etwa ab dem 10. Jahrhundert, aber aus der historischen Überlieferung ist mir kein Fall bekannt, in dem ein Mann aufgrund homosexueller Handlungen vom Dach gestürzt oder sonstwie mit dem Tod bestraft wurde. Zumindest ist kein derartiger Fall überliefert worden. Dies mag in der Fähigkeit einer Gesellschaft begründet liegen, Spannungen und Uneindeutigkeiten zwischen dem Ideal und der Realität auszuhalten. Hinzu kommt, dass das sehr flexible islamische Rechtssystem nicht so sehr auf die Verhängung drakonischer Strafen ausgerichtet war. Die Androhung der Todesstrafe diente vor allem zur Abschreckung, was an der Höhe der rechtlichen Hürden ersichtlich wird, die einer Verurteilung vorgeschaltet waren. Etwa vier Augenzeugen für den Sexualakt, was relativ unwahrscheinlich ist.

Gründete sich die Duldung der Homosexualität im muslimischen Mittelalter darauf, dass sie versteckt ausgelebt und somit die gesellschaftlichen Normen nicht öffentlich in Frage gestellt wurden?

Dr. Weinrich: Eine versteckte Auslebung der Homosexualität halte ich für wenig wahrscheinlich angesichts der hohen Anzahl literarischer Zeugnisse offener Homosexualität. Wir können kaum davon ausgehen, dass die in der Dichtung vielfältig beschriebene Liebe zwischen Männern - vom Anhimmeln bis zum expliziten Sexualakt - nur dichterische Phantasie war.

Christen unterstellten im Mittelalter muslimischen Männern wegen der Homoerotik in der arabischen Literatur eine verbreitete Homosexualität. Wann erfolgte der Bruch von der Duldung zur Verfolgung?

Dr. Weinrich: Der Bruch vollzog sich Mitte des 19. Jahrhunderts. Ab da wurde kaum noch homoerotische Poesie veröffentlicht. Im Gegenteil, manche Gedichtedition arabischer Klassik wurde nunmehr einschlägig zensiert. In den nach und nach entstehenden Nationalstaaten wurde die Bestrafung der Homosexualität in die Strafgesetzbücher aufgenommen. Da wirkten einige Faktoren: die Arbeit christlicher Missionare; der Widerhall des Kolonialismus durch die britischen Beamten, die für einen handfesten Export viktorianischer Prüderie sorgten, und die neue Selbstdefinierung infolge des Kulturkontakts mit dem Westen. Fortan wurde eine scharfe Trennlinie zwischen islamisch und nicht islamisch gezogen. Für das Aushalten von Zwischentönen war kein Platz mehr. Ein machtpolitischer Faktor kam hinzu: Die Kolonialmächte gestanden den Staaten östlich des Mittelmeers oftmals eine rechtliche Nische in der Selbstverwaltung zu. Zumeist das Personenstandsrecht, das für die Kolonialherren unwichtig war. Fortan wurde dieser Bereich symbolisch aufgeladen, stand für Islamizität, für das, was die eigene Identität ausmachte. Das macht es heute so schwierig, genau in diesem Bereich, in den die Geschlechterrollen fallen, Reformen durchzuführen. Es war die vermeintlich letzte Bastion des Eigenen. Solche Probleme gab es beispielsweise nicht im Verfahrens- oder Wirtschaftsrecht, das schnell durch die Kolonialherren geändert wurde

Kam da ein Modernisierungseffekt hinzu, indem sich arabische Eliten durch das Nacheifern der viktorianischen Standards der britischen Kolonialherren vom Volk abheben wollten?

Dr. Weinrich: Ja, viele aus der heimischen Elite, die im Ausland studiert hatten, und ihre Heimatländer als Teil der modernen Welt sehen wollten, haben Haltungen aus Europa übernommen.

Iranische Religionswächter oder IS-Dschihadisten verfolgen Schwule als "verwestlicht". Wie kommt es zu dieser Gleichsetzung?

Dr. Weinrich: Mir fällt hier eine Parallele zum Feminismus auf, der auch als etwas Westliches abgelehnt wird. Feminismus wird nicht als Bewegung gesehen, die die Gleichberechtigung der Geschlechter zum Ziel hat, sondern als Gleichmacherei, die die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verwischen oder sogar aufheben will. Männer könnten so ihre Männlichkeit nicht mehr ausleben und würden schwul.

Und in diesem Moment können sie die für sie in der idealisierten Gesellschaftsform vorgesehene Rolle des Familienoberhauptes nicht mehr ausfüllen...

Dr. Weinrich: ...was sich in Momenten der Krise noch verstärkt. Können Männer die Rolle des Familienernährers immer schwerer erfüllen, wird ein Rückgriff auf normative, idealisierte Rollenbilder immer wichtiger.

Etwas, das offenbar auch auf den Attentäter von Orlando zutraf, der mehrfach in der Rolle des Familienoberhauptes versagte. Ein kleiner Schwenk: Wieso sagt das islamische Recht kaum etwas über lesbische Verbindungen aus?

Dr. Weinrich: Der Diskurs über Sexualität war sehr stark auf die Penetration als sexueller Akt ausgerichtet. Damit hat die weibliche Homosexualität relativ geringe Beachtung gefunden.

Es ist keine Herabstuftung der Frau als "minderwertiges Geschlecht"?

Dr. Weinrich: Jein. Es gab schon eine Hierarchisierung der Geschlechter und der sexuellen Rollen.

Der mörderische Hass auf Schwule ist in der islamischen Welt demnach kein Rückfall ins Mittelalter, sondern eher eine ins Viktorianische Zeitalter?

Dr. Weinrich: Das kann man so sehen. Die Verfolgung Homosexueller in der islamischen Welt ist auf jeden Fall ein modernes Phänomen.

Das Interview führte

Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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