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WAZ: Schulz wird die Chance nutzen, die er nicht hat - Leitartikel von Alexander Marinos zum TV-Wahlduell am Sonntag

Essen (ots)

Sie kennen mich. Mit diesem an Langeweile kaum zu überbietenden Satz hat Angela Merkel vor vier Jahren die Bundestagswahl gewonnen. Da konnte ihr Herausforderer Peer Steinbrück vor laufenden Kameras so haifischartig lächelnd argumentieren, wie er wollte. Am Ende entschieden sich die meisten Deutschen für die unaufgeregte Sachwalterin und Bewahrerin, die mit Ruhe und Rationalität das Land durch die Krisen geführt hat. Sie entschieden sich in dieser Hinsicht - und das ist im Kern paradox - für eine Konservative, die ihre Partei konsequent auf links gedreht und damit dauerhaft mehrheitsfähig gemacht hat. Merkel wird den Sie-kennen-mich-Satz, der in der nunmehr 60-jährigen Tradition des Adenauer-Slogans "Keine Experimente!" steht, so am Sonntag beim TV-Duell mit SPD-Kandidat Martin Schulz nicht wörtlich wiederholen. Aber im Grunde geht es wieder genau darum. Warum benötigt Deutschland eine neue Regierungsspitze, wenn es uns doch derzeit verhältnismäßig gut geht? Und wenn Deutschland eine neue Spitze benötigen würde - was genau wäre "neu" an einem Martin Schulz und seiner SPD, die seit Beginn der Kanzlerschaft Gerhard Schröders 1998 bis heute anderthalb Jahrzehnte mitregiert hat?

Es ist diese - noch so ein Paradoxon - komfortable, auf den ersten Blick völlig unspannende Ausgangslage einer in den Umfragen weit vorne liegenden Kanzlerpartei, die das TV-Duell dann doch wieder spannend macht. Denn Schulz kann mit maximalem Verzweiflungsmut in diese einzige direkte Auseinandersetzung mit Merkel gehen, weil er nichts zu verlieren hat. Merkel dagegen muss darauf achten, dass das Duell zu keinem Zeitpunkt ein für sie nützliches Verflachungsniveau überschreitet und somit zur Initialzündung einer bislang nicht messbaren Wechselstimmung im dahindümpelnden Wahlkämpfchen werden könnte.

Wie volatil politische Stimmungen sind, hat ja gerade dieser Martin Schulz unmittelbar nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten schmerzhaft erfahren müssen. Wie in einer Kantine, die jeden Tag Schnitzel mit Pommes anbietet, stürzten sich plötzlich alle auf das alternative Gericht mit der spritzig-roten Soße nach Würseler Art - um kurz danach doch wieder zum altbewährten Trägemacher-Fettessen zurückzukehren. Bis heute kann keiner erklären, warum der Schulz-Effekt so schnell und radikal ging, wie er kam. Folglich kann auch niemand ausschließen, dass er ganz oder teilweise zurückkehrt. Ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger würden die Union zwar nicht vom Spitzenplatz vertreiben. Aber neue Koalitions- wären neue Machtoptionen.

Ja, Deutschland ist aus vielen Krisen gut herausgekommen. Ja, die Konjunktur brummt und die Staatseinnahmen steigen. Und ja, wir nähern uns, von strukturschwachen Gebieten abgesehen, der Vollbeschäftigung. Aber deshalb ist noch lange nicht alles gut. Die Kehrseite des Merkel'schen Pragmatismus' ist die Abwesenheit alles Visionären. Risiken zu scheuen bedeutet auch, mutlos zu agieren. Zwar hat Merkel punktuell auch mal Mut bewiesen, beim Atomausstieg nach Fukushima etwa oder vor zwei Jahren bei ihrem "Wir schaffen das". Aber angesichts der großen Herausforderungen dieser Zeit, der Digitalisierung und der drängenden Mobilitäts- und Energiewende, wirkt Merkel gefährlich unentschlossen. Da hinkt Deutschland hinterher. Schulz wird und muss den Finger in solche Wunden legen. Angeblich will sich jeder zweite Wahlberechtigte das TV-Duell ansehen. Merkel wittert die Gefahr. Ob sie das aber nervös macht? Wohl kaum. Wir kennen sie ja.

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