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Unterdosierte Krebsmedikamente im Ruhrgebiet: Ausmaß weit größer als bekannt

Hamburg (ots)

Das Ausmaß der vermutlichen Falschdosierung von Krebsmedikamenten durch den Apotheker Peter S. in Bottrop ist erheblich größer als bisher bekannt. Wie die Staatsanwaltschaft Essen dem NDR-Magazin "Panorama" im Ersten und dem gemeinnützigen Recherchezentrum Correctiv bestätigte, könnten mehrere tausend Patienten vor allem in Nordrhein-Westfalen von der Unterdosierung betroffen sein.

Behandelnde Ärzte und auch die Stadt Bottrop, die eine Hotline schaltete, gingen bisher davon aus, dass lediglich fünf Wirkstoffe betroffen seien. In Wirklichkeit aber geht es in dem Ermittlungsverfahren, in dem die Anklage kurz bevorsteht, um viel mehr Wirkstoffe. "Wir befassen uns in diesem Verfahren mit ungefähr 50 verschiedenen Medikamenten", sagt die zuständige Staatsanwältin Annette Milk. Darunter befänden sich Zytostatika, also klassische Chemotherapien, hochpreisige Tumor-Antikörpertherapien, außerdem Begleitmedikationen zur Milderung von Nebenwirkungen. "Bei dieser Vielzahl von Medikamenten taucht immer wieder auf, dass der Apotheker nach unserem bisherigen Erkenntnisstand signifikant weniger Material eingekauft hat, als er abgegeben haben will." Es gehe um Unterschiede von 20 bis 80 Prozent bei einzelnen Medikamenten. Das heißt, S. hätte den Medikamentenzubereitungen im Schnitt nur 20 Prozent des verordneten Wirkstoffs zugefügt. "Wie er seine Gunst verteilte, ist aber völlig unklar", sagt Milk. "Hat er Männer bevorzugt, Frauen benachteiligt? Hat er junge Leute bevorzugt, Alte benachteiligt?"

S. ließ über seinen Anwalt ausrichten, dass er zu diesen Vorwürfen keine Angaben machen wolle.

Carsten Bokemeyer, Direktor der Onkologischen Klinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, nennt das vermutete Vorgehen des Apothekers gegenüber "Panorama" "menschenverachtend". Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, müsse man "statistisch gesehen davon ausgehen, dass hier Menschen zu Schaden gekommen sind". Bokeymer sagt, was das genau heißt: "Dass es im Zweifel zu Todesfällen oder ziemlich sicher zu einer kürzeren Lebenszeit geführt hat". Krebspatienten, so Bokemeyer, seien besonders abwehrgeschwächt, zum Teil auch durch die Therapien, die sie erhalten. So könnten Verunreinigungen zu schwerwiegenden Nebenwirkungen und Infektionen führen, im schlimmsten Fall zu einer tödlichen Sepsis.

Ende November 2016 wurde der Apotheker in Bottrop festgenommen. Peter S. soll über Jahre Chemotherapien und Antikörper-Infusionen für Krebspatienten zu niedrig dosiert haben. Zwei ehemalige Mitarbeiter von S., deren Aussagen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Essen ausgelöst hatten, beschreiben gegenüber "Panorama" und Correctiv , wie Peter S. grundlegende Sicherheitsregeln der Hygiene missachtete: Er habe in Straßenkleidung und in Begleitung seines Hundes im Reinraumlabor der Apotheke gearbeitet - eine regelwidrige und verheerende Fahrlässigkeit, weil das Immunsystem von Krebspatienten während der Therapie so geschwächt ist, dass jede Infektion ein tödliches Risiko darstellt.

Der kaufmännische Leiter der Apotheke glich außerdem Einkaufsbelege systematisch mit den Abrechnungsdaten ab und konnte so belegen: Der Apotheker Peter S. hatte von etlichen Wirkstoffen nur ein Drittel bis die Hälfte der Mengen eingekauft, die er laut ärztlicher Verordnung benötigt hätte. Der Rest wurde offenbar mit Kochsalzlösung oder Glukose aufgefüllt. Allein für einen der in den Ermittlungen relevanten Wirkstoffe kam er so auf 615.000 Euro Gewinn statt legaler 34.000 Euro.

In dem Reinraumlabor der Apotheke werden nach "Panorama"-Recherchen schon seit 2001 Krebsmedikamente unter der Leitung von Peter S. zubereitet. Die Staatsanwälte klagen wegen der Verjährungsfristen aber nur Fälle ab 2012 an.

Die 250 Reinraumlabore für die Krebsmittelherstellung in Deutschland werden bisher alle zwei bis vier Jahre überprüft, in der Regel angekündigt. Patientenschützer fordern gegenüber "Panorama" und Correctiv, Kontrollen müssten vierteljährlich stattfinden - und unangekündigt. Außerdem müsse eine gesetzliche Möglichkeit geschaffen werden, dass diese Speziallabore kaufmännisch überprüft werden, dass man also ihre Einkaufsbelege und Abrechnungsdaten routinemäßig abgleicht, um ein Vorgehen wie im Fall von Peter S. aufzudecken.

Als dritte Konsequenz wird diskutiert, ob und wie physische Stichproben der teuren Krebsmedikamente gezogen werden könnten. Das Landesgesundheitsministerium von Nordrhein-Westfalen (MGEPA) erwägt, ob man von jeder Zubereitung einen Überschuss produzieren lassen könnte, der dann für spätere Kontrollen zur Verfügung steht. Ein anderer Vorschlag zielt auf die Überprüfung von Rückläufern, die Patienten nicht verabreicht werden konnten, etwa aufgrund schlechter Blutwerte. Solche Rückläufer müssen ohnehin vernichtet werden. Es wäre denkbar, sie zentral zu sammeln und Beutel, die noch haltbar sind, für Stichproben zu nutzen.

Auch klinische Studien könnten durch die umfangreichen Falschdosierungen betroffen sein. Laut dem Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit (BfArM) liegen noch nicht alle Antworten der Studiensponsoren vor. Bisher seien mindestens 30 klinische Studien identifiziert worden, deren Teilnehmer mit Medikamenten aus der Bottroper Apotheke beliefert wurden, so Maik Pommer, ein Sprecher des BfArM, auf Anfrage von "Panorama". Das BfArM geht zwar bisher nicht davon aus, dass verfälschte Daten Eingang in frühere Zulassungsstudien gefunden haben. Je nach Aufbau der Studien müssten aber Ergebnisse laufender Studien bereinigt werden, falls Peter S. auch Studienmedikamente unterdosiert hat. Nur so ließe sich verhindern, dass die Wirkung und das Nebenwirkungsspektrum neuer Medikamente über- oder unterschätzt würde.

Auch das Paul-Ehrlich-Institut, zuständig für biologische Wirkstoffe wie Antikörper, hat mindestens vier klinische Prüfungen identifiziert, die betroffen sein könnten. "Wie viele Patienten in Deutschland in diesen klinischen Prüfungen tatsächlich eingeschlossen wurden, ist dem Paul-Ehrlich-Institut derzeit noch nicht bekannt", so eine Sprecherin auf Anfrage von "Panorama" .

"Panorama": Donnerstag, 29. Juni, um 23.30 Uhr im Ersten

Informationen zur Sendung unter www.panorama.de

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Norddeutscher Rundfunk
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